Unser Tesla Artikel „Tesla ersetzt Salesforce durch ein selbst programmiertes CRM-System“ ging förmlich durch die Decke. Scott Brinker gab mir einen weiteren Tipp. Nicht nur Tesla, sondern die hierzulande eher unbekannte Konkurrenz von Uber-Taxi, das Unternehmen Lyft, baut sich seine eigene Marketing Automation-Lösung.
Lyft, Konkurrent von Uber, programmiert auch seine eigene Marketing Automation Lösung. Lyft tritt derzeit nur in Nordamerika (USA und Kanada) in Szene. Laut Wikipedia ist Lyft 2012 als Mobilitätsdienstleister gegründet worden, erzielte im Jahr 2018 über 2 Mrd. Dollar Umsatz und dies repräsentiert einen Marktanteil von ca. 39 %. Uber brachte es in über 60 Ländern im Jahr 2018 auf über 11 Mrd. Dollar Umsatz.
Ein Stich ins Wespennest? Ein Wachrüttler oder ein Blick in unerkannte Welten?
Viele Reaktionen auf den Tesla-Artikel waren „Das hatten wir schon mal – Individual-Software ist out“. Sowohl Berater als auch Software-Anbieter stimmten in diesen Tenor. Dennoch gab es auch einige Anbieter-Anrufe nach dem Motto „Das beobachten wir auch, dass immer mehr Kunden auch selbst programmieren und damit extrem individualisieren wollen“.
Das ist doch auch logisch. Wer das Kürzel CRM in den Mund nimmt, hat automatisch Personalisierung und Individualisierung im Kontext. Meist ist die Kommunikation, Werbung und das Angebot gemeint, aber natürlich werden auch hundertausende Euros für Customizing ausgegeben. Was nichts anderes ist.
Also ist es doch durchaus nachvollziehbar, dass Firmen, die „Make or Buy“-Überlegungen anstellen, rechnen: „Was kostet mich das Customizing und was bringt es?“ sowie die Frage stellen: „Wie viel Aufwand kostet mich eine Individuallösung?“ und: „Wie viel Prozent nutzt man im Schnitt an einer Lösung und wie viel Leerkosten (Module und Funktionen, die man nicht nutzt) entstehen?“
Diese Gedanken hatte auch das Engineering-Team von Lyft durchgespielt und kam zur Entscheidung. Das Team baut sich seine eigene Marketing Automation Plattform. Das „warum und wie?“ wurde vom Lyft Engineering Team auf dem Portal Medium „Building Lyft’s Marketing Automation Platform“ veröffentlicht.
Was waren die Beweggründe für eine eigens programmierte Marketing Automation Lösung?
„Aufgrund der Herausforderungen bei der Verwaltung eines Marktplatzes mussten wir unser Marketingautomatisierungssystem eng mit den wichtigsten internen Systemen koppeln – nämlich der Vorhersage des Customer Lifetime Value, der Attribution und der Service Level Prognose auf dem Marktplatz. Wir mussten genau wissen, wie viel wir heute ausgeben müssen und welche Auswirkungen dies auf den Markt 2, 8 oder 16 Wochen in der Zukunft hat.
Bei der Bewertung kommerziell verfügbarer Lösungen sind wir zu dem Schluss gekommen: Die teuersten Komponenten der Plattform sind die internen Dienste – LTV, Attribution und Forecasting. Die eigentlichen Ausschreibungsschnittstellen zu den Werbeplattformen waren relativ kostengünstig.
Da die Erstellung und Wartung der Ausschreibungsschnittstellen weniger kostspielig war und die Kontrolle über alle unsere Daten es uns ermöglichte, die teuren Kernkomponenten der Plattform effektiver zu verbessern, haben wir uns entschieden, dies alles im eigenen Haus zu realisieren.
Im Rückblick war dies definitiv die richtige Entscheidung – wir haben zahlreiche Verbesserungen an den Kernkomponenten der Plattform vorgenommen, die zu erheblichen Kosteneinsparungen geführt haben, Verbesserungen, die sich erheblich erschwert hätten, wenn wir nicht die komplette Datenpipeline zur Veröffentlichung von Angeboten besessen hätten.“
(Übersetzt mit DeepL aus der amerikanischen Quelle)
Neben Tesla und Lyft arbeiten viele Firmen an Individual-Software-Lösungen
Der Artikel von Scott Brinker zeigt, dass es durchaus einige Firmen gibt, die sich nicht auf Standard-Software einlassen wollen. Aber, und das ist auch unser Eindruck, so schreibt Scott: „Obwohl wir wissen, dass es viele selbstentwickelte MarTech-Systeme in der Wildnis gibt, ist es selten, dass sie öffentlich beschrieben werden.“ (Zitat mit DeepL aus dem Amerikanischen übersetzt)
Was ist nun die Schlussfolgerung? Was ist besser?
Vor 30 Jahren startete ich mein Berufsleben bei Yves Rocher und ich erlebte dort eine 100% Individual-Lösung. Sie war bis in jedes Detail ausgefeilt. Von daher kann ich durchaus diese Tendenz bzw. diesen Retro-Trend verstehen. Was ist nun richtig? Klar ist, es gibt nicht nur Schwarz und Weiß. Dazwischen existieren – wie immer – viele verschiedene Grautöne.
Jedes Unternehmen muss sich u. a. diese Fragen stellen: Wie sieht meine zukünftige Software-Landschaft aus? Was ist der beste Mix aus Standard- bzw. Individual-Software? Wie viel Aufwand kommt auf ein Unternehmen zu, die Standard-Software sinnvoll an die eigenen Bedürfnisse anzupassen? Wo wird dieser Weg zu teuer? Macht man nur die Konkurrenz schlau, weil sie die gleiche Standard-Software im Einsatz hat und die Customizing-Aufwendungen früher oder später bei ihr landen? Wo unterstützt eine Individual-Lösung perfekt den eigenen USP?
Das vorschnelle Urteil, eine individuelle (CRM-) Software-Lösung koste deutlich mehr als eine „von der Stange“, ist nach unseren Einschätzungen nur selten haltbar. Wer die Kosten für Zusatzprogrammierungen und Customizing über Jahre betrachtet, der wird durchaus auch seine Zweifel haben. Von der Abhängigkeit an Produkt und Dienstleister mal ganz abgesehen. Es bleibt eine Philosophie-Frage.
Bild: Lyft